Wir schreiben das Jahr 1927. Vier junge Menschen in einer Wohnung in Berlin Steglitz. Nur zwei werden den Tag des 28. Juni erleben. In den frühen Morgenstunden erschießt der 19-jährige Günther Scheller den Freund seiner Schwester und anschließend sich selbst. Der Plan war ein anderer, doch dazu kommt es nicht mehr. Was sich liest wie ein Kriminalroman, hat tatsächlich an besagtem Tag stattgefunden. Berühmt geworden ist der Fall als die Steglitzer Schülertragödie.
Die Oberschüler Günther Scheller und Paul Krantz kommen aus zwei gegensätzlichen Welten, der eine wohlhabend, der andere ein uneheliches Kind aus dem Arbeitermilieu, der es mithilfe eines Stipendiums auf die Schule geschafft hat, an der sich beide begegnen. Paul schreibt schwärmerische und schwermütige Gedichte, die an das Zeitalter der Romantik erinnern. Schon dort drückt er Gedanken an einen gewaltsamen Tod aus:
". . . auf dem Boden liegt die Leiche meines Freundes Robert Krause,
Aus der Wunde sickert langsam rotes Blut zur grauen Erde.
Neben ihm sitzt starren Blickes der, der ihn gemordet hat
Es verglimmt die Zigarette, zitternd in der Mörderhand . . ."
Günther ist beeindruckt von Pauls Schreiben, die beiden werden Freunde. Als seine Eltern auf Geschäftsreise in Dänemark sind, lädt er Paul ein, das Wochenende mit ihm und seiner Schwester Hilde, Spitzname Männe, im Ferienhaus der Schellers in Mahlow zu verleben. Paul ist in Günthers Schwester verliebt und willigt gerne ein. Doch seine Wünsche und Hoffnungen sie für sich zu gewinnen, werden sich nicht erfüllen. Hilde will ihr Leben genießen, sich noch nicht festlegen.
Das Ende des Wochenendes gipfelt in einer Katastrophe. Hilde war vorzeitig mit Hans Stephan, einem 19-jährigen Kochlehrling, mit dem sie ein Liebesverhältnis hatte, in die elterliche Wohnung nach Steglitz zurückgekehrt um dort die Nacht zusammen zu verbringen. Günther, vermutlich unglücklich verliebt in Hans, und Paul, unglücklich verliebt in Hilde, schmieden einen Plan sich an denjenigen zu rächen, von denen sie so enttäuscht wurden. Die Gefühle der beiden kochen hoch, steigern sich durch Überspanntheit, Schlafmangel und Alkohol noch weiter. Die Sache ist ernst, denn Paul hat einen Revolver. Er stammt von einem Bekannten, den er auf einer Veranstaltung des Jungdeutschen Ordens kennengelernt hat1, Paul sollte ihn für ihn aufbewahren. Sie schreiben Abschiedsbriefe, in denen sie ihr Vorhaben erklären:
„Liebes Weltall! Ein einziges Stück des Organismus vergeht. Sei nicht böse darüber. Du wirst den Verlust einer Zelle kaum als Verlust empfinden. Die Zeit rollt weiter. Was bedeutet so ein bisschen Leben? Ein kurzer aufleuchtender Schein in der Welt, dann Staub und Asche. Wir werden die letzten Konsequenzen ziehen. In diesem Moment werden Hans Stephan und Männe durch unsere Hand sterben. Wir beide, Günther und ich, werden lächelnd aus dem Leben scheiden.“ [...] „Fritz, ich erschieße erst Hilde, dann Günther, während Günther den Hans Stephan zuerst erschießen wird. Das ist die volle Wahrheit. Lache nicht. Denke daran, dass mein Schritt die letzte Konsequenz eines vom Leben Getöteten ist. Günther ist vollkommen einverstanden und grüßt Dich wie ich zum letztenmal.“
Im Brief etwas verschachtelt formuliert, soll Günther Hans erschießen, danach Paul Günther. Anschließend Hilde und zuletzt sich selbst. Sie nennen es einen „Selbstmord zu Vieren.“ Doch als der gerufene Arzt kurz nach der Tat eintrifft, findet er nur Hans und Günther tot auf. Paul hat seinen Teil der Vereinbarung nicht eingehalten und wird kurz darauf festgenommen. Acht Monate verbringt der 18-Jährige in Untersuchungshaft. Die Anklage lautet zunächst Mord und Anstiftung zum Mord. Der Prozess, der darauf folgt, wird eines der größten Medienspektakel der Weimarer Republik. Journalisten aus Japan und der USA reisen an um darüber zu berichten.
Während der Zeugenbefragungen wird nach Gründen für die Tat gesucht. Unerwiderte Liebe, Eifersucht, Einsamkeit, Überdruss, Depression? Ein Generationenproblem, oder ist die Schuld in den Lebensumständen zu suchen? Der Fall löste ohne Zweifel eine Debatte über den sittlichen Verfall der Jugend aus. Eine ausschweifende Lebensart und zu frühe sexuelle Aktivität wurde den jungen Menschen vorgeworfen, zudem ein Abgestumpftsein durch Krieg und instabile politische Verhältnisse. Der Berliner Stadtanzeiger und die Berliner Morgenpost schrieben damals:
Es gehöre "zu den bittersten Nachwirkungen des Krieges, dass die Scharfschießerei als eine sehr mannhafte und ritterliche Manier angesehen, fremdes Leben aber wenig geachtet wird".
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[Vielleicht würde] "der Prozess ja ergeben, was Elternhaus und Schule in diesem Fall gesündigt haben, oder ob es allgemein traurige Erscheinungen eines Zeitalters sind, für die Schuldige zu suchen vergebens wäre".
Paul Krantz wird schließlich von den Vorwürfen des Mordes und Anstiftung zum Mord freigesprochen. Verurteilt wird er nur wegen unerlaubten Waffenbesitzes, eine fünfmonatige Bewährungsstrafe, die allerdings mit seiner Untersuchungshaft bereits abgegolten ist.
Um dem Medienrummel nach dem Prozess zu entgehen, zieht Paul Krantz nach Frankfurt am Main, ändert seinen Namen zu Ernst Erich Noth und beginnt ein Studium der Germanistik, Soziologie und Pädagogik. 1931 verfasst er den autobiographisch gefärbten Roman „Die Mietskaserne“, in der er seine von Armut und häuslicher Gewalt geprägte Kindheit und Jugend im Berliner Arbeitermilieu beschreibt. Der Selbstmord eines Schülers kommt auch darin vor, allerdings gibt es keine direkten Bezüge zur Steglitzer Schülertragödie. Als undeutsch und schädlich deklariert, wird sein Erstlingswerk 1933 Opfer der Bücherverbrennung der Nazianalsozialisten. Noth emigriert nach Frankreich und später in die USA, wo er den deutschsprachigen Dienst der NBC leitet und nach dem Krieg Dozentenstellen an Universitäten bekleidet. In seinen 1970 verfassten Memoiren „Erinnerungen eines Deutschen“ äußert er sich nochmal zur der Tat, die ihn mit 18 Jahren berühmt gemacht hatte, wobei der die Schuld bei sich und nicht bei der Gesellschaft sucht:
"Was die Ereignisse dieser Unheilsnacht betrifft, bleibt die Tatsache bestehen, daß ich eine bange, dämonische Stunde lang in den wahnsinnigen Plan eines ‚Selbstmords zu Vieren’ eingewilligt habe. Daß ich nicht oder niemals gänzlich an die Möglichkeit seiner Verwirklichung glaubte und ihn zuletzt ebenso verzweifelt wie erfolglos zu hintertreiben suchte, ändert nichts an der gedanklichen Verfrevelung, die sich aus den wüsten Wirrungen dieser perversen Nacht gebar."
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„Denn alle Schuld an dieser Katastrophe einzig und allein auf Umwelt und Zeitverhältnisse, wie Schule, Elternhaus und Gesellschaftsentartung abzuwälzen, wie es in einem Großteil der Presse und öffentlichen Meinung gemacht oder versucht wurde, wäre ein allzu billiges Alibi“.
Verfilmt wurde die Geschichte 1929 und 1960, jeweils unter dem Titel „Geschminkte Jugend“. 2004 noch ein weiteres Mal, diesmal unter dem Titel „Was nützt die Liebe in Gedanken“. Die Filmkritik dazu finden Sie in Kürze auch auf diesem Blog.
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1 Diesem war er allerdings nicht aus politischer Überzeugung beigetreten, sondern weil einige seiner Klassenkameraden (unter anderem auch Günther Scheller) dort Mitglieder waren. Die als 'Wanderungen' getarnten Aufmärsche boten für viele ein willkommenes Kontrastprogramm zum Leben in Enge und Not in den Berliner Mietskasernen
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