Anita Berber und der Rausch
Im großen Saal ist es dunkel. Im Publikum sitzen fast nur Herren, einige sind maskiert. Die Luft ist schwer von Parfum, Zigarettenrauch und dem Atem vieler Menschen. Als das Scheinwerferlicht angeht, ist ein vielstimmiges Raunen zu vernehmen. Eine verhüllte Gestalt betritt die Bühne, unter den Schleiern ist ein nackter, weiblicher Körper erkennbar. Das Raunen wird lauter, unterbrochen von Pfiffen besonders Voreiliger. Die Gestalt beginnt sich zu räkeln, sich zu verbiegen. Folgt mal dem Rhythmus der Musik, mal einem anderen, inneren Takt. Wirbelt wie toll herum, um im nächsten Moment wieder in sanftes Wiegen zu verfallen. Langsam steigern sich die Bewegungen der Gestalt, die Schleier fallen zu Boden. Wie in einem Wahn verzerrt sie ihre Gesichtszüge, lacht, weint und schreit lautlos. Sie windet sich am Boden, spreizt die Beine in obszöner Weise. Das Publikum tobt. Will immer noch mehr. Ein letztes Zucken und der Tanz ist vorbei. Die Gestalt liegt am Boden und rührt sich nicht mehr. Die Musik ist aus. Der Vorhang schließt sich.
Wenn Sie nach dieser frivol-verrucht-ekstatischen Vorführung nicht wissen, wo Ihnen der Kopf steht, verehrtes Publikum: Die geheimnisvolle Tänzerin unter den Schleiern ist natürlich niemand geringeres als Anita Berber. 1899 kommt sie in Berlin zur Welt, der Vater Felix Berber ist Violinvirtuose, die Mutter Lucie Kabarettistin und Chansonsängerin. Bereits drei Jahre später lassen sich die Eltern aufgrund unüberbrückbarer Differenzen scheiden, Anita wird zur Großmutter nach Dresden geschickt, wo sie bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges bleibt. 1914 kehrt sie zu ihrer Mutter nach Berlin zurück und beginnt mit Schauspiel- und Tanzunterricht, unter anderem bei Maria Moissi und Rita Sacchetto. Ab 1916 tritt sie regelmäßig mit Sacchetto und ihrer Gruppe auf, doch schon ein Jahr später trennen sich die Wege, Anita möchte es als Solistin versuchen. 1918 kann sie bereits Erfolge in der Schweiz, Ungarn und Österreich feiern. Zwei Jahre darauf schließt sie sich der Gruppe um Celly de Rheidt an, dem ersten bekannten Nackt-Ballett. Anitas Karriere geht weiter bergauf. Neben ihren Tanzauftritten erhält sie auch kleinere Filmrollen, unter anderem in Richard Oswalds Unheimliche Geschichten (1919) oder in Fritz Langs Dr. Mabuse, der Spieler (1922). Doch es bleibt bei den kleineren Rollen, denn mit Anitas Ruf steht es nicht unbedingt zum Besten. Kokain, Morphium und Alkohol sind die treuen Begleiter ihres Alltags und häufig die Ursache dafür, dass Auftritte oder andere Termine spontan abgesagt werden müssen, weil die Tänzerin unpässlich ist - nicht gerade zur Freude von Intendanten oder Regisseuren.
Tänzerin, Schauspielerin, Dichterin und Stilikone
Wenn Anita nicht gerade auf der Bühne des Wintergartens, des Apollo-Theaters oder der Weißen Maus steht, kann man sie auch im Berliner Nachtleben antreffen, im Adlon, wo sie sich von bewundernden Herren Sekt ausgeben lässt oder in so einschlägigen Etablissements wie dem Toppkeller, wo Damen andere Damen kennenlernen können, denn die Tänzerin legt sich nicht gerne fest. Dort erscheint sie entweder im Smoking mit Monokel oder im Zobelpelz, in dessen Kragen ein dressiertes Äffchen sitzt. Gerade ihr Auftreten im Smoking löst einen Trend unter den modebewussten Damen Berlins aus, sodass ihr Stil von vielen imitiert wird, „sie gingen à la Berber“ beschreibt der Journalist Siegfried Geyer in der Zeitschrift Die Bühne das Phänomen.
Doch das große Glück kann Anita weder im privaten noch im beruflichen Leben finden. Zwei Ehen enden nach kurzer Zeit mit Scheidung, auch die Beziehung zu ihrer Freundin Susi Wanowsky ist nicht von Dauer. Ihr Vater, den sie nach einem seiner Auftritte besuchen möchte, weigert sich mit ihr zu sprechen, eine Kränkung, die sie schwer trifft. Auch leidet die Tänzerin unter dem Unverständnis des Publikums, das sich häufig nicht für ihre Kunst interessiert, sondern sie nur nackt sehen will. In einem Interview mit dem Journalisten Fred Hildenbrandt klagt sie: "Wir tanzen den Tod, die Krankheit, die Schwangerschaft, die Syphilis, den Wahnsinn, das Sterben, das Siechtum, den Selbstmord, und kein Mensch nimmt uns ernst. Sie glotzen nur auf unsere Schleier, ob sie darunter etwas sehen können, die Schweine."
Millionenmal tot, verwest, und schön – so schön*
Mit ihrem Lebensgefährten und Tanzpartner Sebastian Droste entwickelt Anita 1922 das berühmte Programm Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase, welches Tänze namens Kokain, Morphium oder Die Leiche am Seziertisch enthält. Die Tänze werden auch schriftlich abgefasst, zusammen mit Gedichten von Berber und Droste. Aber obgleich die Vorführungen stets ausverkauft sind, erntet das Paar oft nur Spott und derbe Zwischenrufe, was Anita mal mit Beschimpfungen, mal mit Handgreiflichkeiten quittiert. Einem Gast soll sie sogar eine Champagnerflasche über den Kopf geschlagen haben, ein Vorfall, der zu ihrem eigenen Rausschmiss führte. Bald kann sie allerdings auch aus anderen Gründen nicht mehr mit Sebastian Droste auftreten, denn dieser setzt sich 1924 (zusammen mit ihrem Schmuck) nach Amerika ab, da er wegen Betrugs gesucht wird. Mit ihrem letzten Partner Henri Châtin-Hofmann versucht sie nochmal eine Auslandstournee, doch endet diese für sie mit einem Zusammenbruch auf einer Bühne in Damaskus. Geschwächt von jahrelanger Drogen- und Alkoholsucht, diagnostizieren die Ärzte bei ihr „gallopierende Schwindsucht“, die Heimreise zieht sich aufgrund ihres prekären Gesundheitszustands mehrere Monate hin. 1928 stirbt Anita Berber im Alter von nur 29 Jahren.
Leben am Abgrund
Drogenexzesse, Skandale, Tanzauftritte, die jegliche Tabus sprengten: Der ständige Rausch war die Antriebsfeder für Anitas Kunst, die vielleicht nur in einer Zeit wie der Weimarer Republik entstehen konnte, die geprägt war von Nachkriegsleiden, Inflation und Vergnügungssucht. Doch wie vielen anderen Künstlern vor und nach ihr wurde der Tänzerin die Anerkennung, nach der sie verlangte, zu Lebzeiten nicht gewährt. Die Freizügigkeit ihrer Auftritte waren ein zu starker Kontrast zur biederen Kaiserzeit. Viele wollten sich nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren nur auf möglichst leichte Art amüsieren. So wundert es nicht, dass Anitas Darbietungen vom Publikum schnell in die Kategorie billige Unterhaltungserotik gesteckt wurden und ihre wutentbrannten Reaktionen auf unpassende Zwischenrufe taten ihr Übriges, den künstlerischen Aspekt dahinter zu ignorieren. Anita versuchte stets durch ihren Tanz ein Ventil zu finden, all die Schrecken der Zeit zum Ausdruck zu bringen und der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, auch wenn diese sich mit Händen und Füßen dagegen zur Wehr setzte. Grauen, Laster, ein Leben am Abgrund – Der sinnbildliche „Tanz auf dem Vulkan“: Anita Berber hat ihn wie keine andere getanzt.
* aus Anita Berbers Gedicht "Ich" an Sebastian Droste
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