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Marleen Tigersee

Fotografierende Frauen / Zebras im Schnee



Frankfurt. Stadt der Hochhäuser, Stadt am Main, Stadt der Kunst und der Museen, Stadt von Goethe, Frankfurter Schule, Frankfurter Küche, Großstadt, Altstadt, Apfelwein und Grüne Soße. Beton und Glas, Fachwerk und Grüngürtel. Eine internationale Stadt mit starken Kontrasten. Doch wie war die Stadt vor 100 Jahren, in den 1920ern? Es wurde gebaut, es wurde gefeiert, es wurde vieles ausprobiert und vor allem wurde fotografiert -und Frauen waren häufig ganz vorne mit dabei.


Um fotografierende Frauen geht es im Roman Zebras im Schnee von Florian Wacker und auch in der aktuellen Ausstellung Stadt der Fotografinnen im Historischen Museum Frankfurt. Ein doppelter Grund Ihnen beides einmal vorzustellen.



Zebras im Schnee


Was es mit den titelgebenden Tieren auf sich hat, wird hier selbstverständlich nicht verraten

Frankfurt am Main 1927. Ella und Franziska sind beste Freundinnen. Die beiden jungen Frauen träumen von der Freiheit und dem künstlerischen Erfolg. Ella, die aus bescheidenen, kleinbürgerlichen Verhältnissen stammt, möchte Fotografin werden. Ihre Eltern, die ein Mathematikstudium für sie vorgesehen haben und die sie als Hoffnungsträger der Familie sehen, haben kein Verständnis für die Fotografie-Leidenschaft ihrer Tochter. Etwas leichter hat es da Ellas Freundin Franziska. Finanzielle Sorgen hat sie keine und auch was die Berufswahl anbetrifft, genießt sie größte Freiheit. Onkel und Tante, bei denen sie wohnt, ermöglichen ihr ein Kunststudium an der renommierten Städelschule, an der auch Größen wie Max Beckmann anzutreffen sind. Vom Temperament könnten die beiden Freundinnen ebenfalls nicht unterschiedlicher sein. Während Ella viel von Unsicherheit, Selbstzweifel und Gewissensbissen ihren Eltern gegenüber geplagt ist, scheint Franziska solche Sorgen überhaupt nicht zu kennen. Sie lebt in den Tag hinein, ist sprunghaft, impulsiv, lebenshungrig und nicht bereit Kompromisse einzugehen. Als Ella durch eine Zufallsbekanntschaft Zugang zum Architektur-Kreis um Ernst May erhält und endlich den Sprung in die Unabhängigkeit wagt, führt dies zum Bruch mit Franziska, die sich mittlerweile einer kommunistischen Gruppierung angeschlossen hat. Ernst May verkörpert für sie das bürgerliche Leben, dem sie zu entrinnen versucht. Beide Frauen folgen ihren Lebenswegen bis sie sich unter dramatischen Bedingungen wieder begegnen.


Das Gesellschaftshaus des Palmengartens in Frankfurt, fotografiert von Grete Leistikow 1929
Schriftsteller Carl Zuckmayer im Frankfurter Zoo, fotografiert 1929 von Nini und Carry Hess


Neben der Geschichte um die beiden Freundinnen folgt der Roman einem zweiten Handlungsstrang. 1997 in New York City. Franziskas Sohn Richard, ein 50-jähriger Museumskurator, stößt zufällig auf eine ihm bislang unbekannte Fotografie seiner Mutter, die sie auf einer kommunistischen Demonstration in den frühen 30er Jahren zeigt. Fasziniert von der Aufnahme versucht er mehr über die Entstehungsgeschichte des Fotos und dem Leben seiner Mutter in Deutschland zu erfahren, von dem sie zeitlebens geschwiegen hatte. Siebzig Jahre später kehrt er in Franziskas Heimat Frankfurt zurück und begibt sich auf eine spannende Spurensuche durch die Vergangenheit, die einige Überraschungen für ihn bereit hält.


Ein Vergleich: Skyline von New York...
... versus Skyline von Frankfurt am Main

Zebras im Schnee ist ein Roman über Freundschaft, Selbstfindung, Zukunft und Vergangenheit, von Vergessenwerden und Wiederentdecken. Kunst, Architektur und Fotografie und eine im Wandel begriffene Großstadt stehen dabei immer im Zentrum des Geschehens. Man begegnet neben Ernst May weiteren Berühmtheiten wie den Architekten Martin Elsässer und Margarete Schütte-Lihotzky, den Fotografinnen Ilse Bing, Grete Leistikow, Nini und Carry Hess und vielen mehr. Der rauschhafte Geist der 20er Jahre wird wiedererweckt, wenn wir mit Ella eine wilde Nacht im Tanzlokal Malepartus verbringen:



Silvester im Malepartus. In der Raubhöhle läuft das Leben über, schlittert über die Tanzfläche, ballt sich um die Tische, schäumt über in den Gläsern, schlingert, lallt und kreischt. Die Bude ist rappelvoll, die Kellner arbeiten sich schwitzend zu den Tischen vor, sie tragen goldene Krönchen und weiße Fracks, die Musiker spielen sich die Köpfe rot.*



Bekannte Frankfurter Vergnügungspaläste der 20er Jahre: Das Schumann-Theater am Hauptbahnhof...


... und das Gross-Frankfurt am Eschenheimer Turm

Neben rauschhaften Nächten erleben wir auch ruhigere und nachdenklichere Momente, in denen die Rolle der Fotografie als modernes, künstlerisches Medium behandelt wird. Die Frage kommt auf, ob Fotografie überhaupt Kunst ist, was jedoch für Ella außer Zweifel steht. Für sie ist das Fotografieren mehr als nur das Drücken des Auslösers. Es ist ein subjektiv gewählter Ausschnitt der Welt, das Festhalten eines Augenblicks, einer Bewegung, einer Stimmung. Licht, Perspektive, Blende und Objektiv tragen zusätzlich dazu bei, dass eine Fotografie zu einem individuellem Kunstwerk wird. In Ellas Fall ist die Kamera nicht nur ein Instrument zur Schaffung von Kunst, sondern darüber hinaus ein Symbol der Unabhängigkeit, durch sie schafft Ella es sich von ihrem Elternhaus loszusagen und einen eigenen, selbstbestimmten Weg zu gehen. Dass Fotografie auch politisch sein kann, merkt Ella als sie mit der Gruppe um Ernst May in Russland eine im Entstehen begriffene Siedlung dokumentieren soll und mit einem skeptischen Einheimischen ins Gespräch kommt:



[…] ein Bild ist nur ein Augenblick. […] Sie können die Wahrheit formen mit Ihrer Kamera, indem Sie einen bestimmten Ausschnitt wählen.**



Ernst Mays Gruppe für das Siedlungsprojekt in Russland (Sowjetunion)

Von Mays Gruppe gebaute Wohnhäuser in Magnitogorsk (Sowjetunion)


Ausstellung: Stadt der Fotografinnen


Sollten Sie nun neugierig auf den Roman oder das Thema fotografierende Frauen geworden sein, kann ich Ihnen sehr die Ausstellung Stadt der Fotografinnen. Frankfurt 1844 – 2024 im Historischen Museum empfehlen. Von den Anfängen der Fotografie bis in die Moderne werden Arbeiten von verschiedensten Fotografinnen ausgestellt, die alle einen Bezug zur Mainmetropole haben. Zu sehen sind Gesellschafts- und Künstlerporträts, Architektur-, Mode- und Werbefotografien, urbane Impressionen einer stetig wachsenden Stadt, ebenso Alltagsszenen und gesellschaftskritische Aufnahmen und Collagen von 40 Fotografinnen, einige davon werden erstmalig einem breiteren Publikum vorgestellt.



Zukunftsweisende Architektur: Das neue Frankfurt war in den 20ern in aller Munde

Spiel mit Licht und Schatten: Die Frankfurter Hellerhofsiedlung, fotografiert von Ilse Bing


Viele in Zebras im Schnee vorkommende Künstlerinnen und Themen begegnen einem bei der Ausstellung wieder, sodass sie wunderbar begleitend dazu besucht werden kann. Bis zum 22. September 2024 haben Sie noch die Möglichkeit Stadt der Fotografinnen im Historischen Museum in Frankfurt zu sehen.


Ich hoffe, Sie haben nun Lust bekommen, einen Ausflug nach Frankfurt zu unternehmen oder sich mit Florian Wackers Roman auf eine gedankliche Reise durch meine Heimatstadt zu begeben, in jedem Fall wünsche ich Ihnen viel Vergnügen!


Bis zum nächsten Mal!



Ihre Marleen Tigersee






*Florian Wacker, Zebras im Schnee, Berlin/München 2024, S. 94

**ebd., S. 225






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