Eine kalte Januarnacht in Brooklyn, New York. Im Lebensmittelgeschäft Roulston an der Seventh Avenue war von dem geschäftigen Treiben dieses Samstags nicht mehr viel zu spüren. Die sechs Angestellten begannen bereits aufzuräumen, als die Ladenglocke läutete. Eine zierliche, junge Frau mit kurz geschnittenen Haaren, gekleidet in einen eleganten Pelzmantel, näherte sich der Theke und verlangte eine Packung Eier. Während das Gewünschte für die Dame verpackt wurde, klingelte die Glocke über der Tür erneut und ein Mann trat ein. Er gab der Frau ein unauffälliges Zeichen. Als sich der Verkäufer einen Moment später wieder zu seiner Kundin umdrehte, blickte er schon in den Lauf ihrer Pistole. Wenige Augenblicke danach war die Ladenkasse geplündert und das Paar in der Nacht verschwunden. Die Frage, die New York am nächsten Tag beschäftigte: Wer ist die Banditin mit der Bobfrisur?
Das Jahr 1924 war von vielen New Yorkern trotz Prohibition feuchtfröhlich begangen worden. Die Welt erholte sich langsam von den Nachwehen des großen Krieges und vor allem in den Vereinigten Staaten versetzte die wachsende Wirtschaft und der steigende Wohlstand die Bevölkerung in Feierlaune. Konsumgüter waren keine Mangelware mehr und die stetig größer werdende Medienlandschaft sorgte dafür, dass Begehrlichkeiten geweckt wurden. Das Teilzahlungsmodell wurde ins Leben gerufen, das auch Menschen mit kleinem Geldbeutel ermöglichte, Luxusgüter zu erwerben, für die zunächst nur eine Anzahlung fällig war. Der Rest konnte in Raten abgeleistet werden. Es mag nicht überraschen, dass sich viele Menschen durch diese neue Finanzierungsmethode hoch verschuldeten.
Auch Celia und Ed Cooney, ein junges Ehepaar, das im Stadtteil Brooklyn ein kleines Apartment bewohnte, lebte über ihre Verhältnisse. Ed wollte seiner Frau jeden Wunsch erfüllen und machte ihr häufig teure Geschenke, die er auf Kredit bezahlte. Sein Gehalt als Automechaniker reichte jedoch für derartige Anschaffungen kaum aus und als klar wurde, dass sie bald zu dritt sein würden, musste Celia ihre Arbeit als Wäscherin aufgeben und das Geld begann knapp zu werden. Selbst aus einfachsten Verhältnissen stammend, wollte Celia für ihr Kind ein besseres Leben, ein richtiges Zuhause statt eines einzigen möblierten Zimmers. Die finanziellen Sorgen wurden so groß, dass das Paar darüber immer häufiger in Streit geriet. Ed versprach seiner Frau schließlich, für das Problem eine Lösung zu finden...
Am 5. Januar war ein Plan gefasst. Ed hatte Pistolen besorgt und den Überfall mit Celia am Küchentisch geprobt. Für den genauen Ablauf und was sie sagen wollten, wenn es ernst würde, dienten die Detektivromane, die Celia gerne las, als Inspirationsquelle. Die Organisation eines Fluchtwagens war dank Eds Arbeit in der Autowerkstatt kein Problem. Er dachte sogar daran, die Nummernschilder auszutauschen, sodass der Wagen nicht nachverfolgt werden konnte, sollte er gesichtet werden. So vorbereitet machte sich das Paar am späten Samstagabend auf die Suche nach einem geeignetem Laden, den sie überfallen konnten und wurden bei Roulston schnell fündig. Trotz anfänglicher Nervosität verlief alles wie am Schnürchen und ehe es sich die beiden versahen, waren sie wieder in ihrer kleinen Wohnung, um 600 Dollar* reicher.
Als Ed Cooney am nächsten Morgen die Zeitung holte, lautete die Schlagzeile Woman with gun holds up six men. Die Presse war fasziniert von Celias eleganter Erscheinung und von ihrem aktiven Part in dem Überfall. Auch wenn die Rolle der Frau in der Gesellschaft Anfang der 20er Jahre schon deutliche Änderungen erfahren hatte, wurde immer noch stark diskutiert, welche Rechte und Freiheiten eine Frau haben sollte und welche nicht. Ein kontroverses Thema war das Kurzschneiden der Haare und wie die Teilhabe am öffentlichen Leben auszusehen hatte. Als gesellschaftlich akzeptierte weibliche Eigenschaften galten bis dato Zurückhaltung und Passivität. Celias dominantes Auftreten und dass sie offenbar diejenige war, die das Sagen hatte, war eine Sensation, auf die sich die Zeitungen stürzten. Die Geschichte wurde noch weiter ausgeschmückt und Celia als abgebrühte Ganovin dargestellt, Eds Rolle wurde zu der eines einfachen Begleiters degradiert. Vor allem ihre kurzen Haare bescherten ihr schließlich den Spitznamen, unter dem sie bald überall bekannt werden sollte: The Bobbed-Haired Bandit**.
She bobbed her hair
Then got a gun
And robbed a drug Store of its mon.
There are some girls
Who always will
When they go out
Be dressed to kill***
(Tom W. Jackson, aus einem Zeitungsartikel der Brooklyn Standard Union)
Berauscht durch den Erfolg begaben sich die Cooneys am Tag darauf auf Wohnungssuche. In der Nähe von Eds Autowerkstatt wurden sie kurze Zeit später bereits fündig und mieteten sich zwei Etagen in einem gepflegten alten Fachwerkhaus. Danach besuchten die beiden Möbelgeschäfte, um ihr neues Domizil passend auszustatten. Nicht gewohnt über so viel Geld zu verfügen, übernahm sich das Paar mit den Kosten für die Wohnung und den vielen Anschaffungen, sodass sie sich schon eine Woche danach gezwungen sahen, einen weiteren Überfall zu planen. Wieder wählten sie Samstagabend als Zeitpunkt aus und wieder entschieden sie sich für ein Lebensmittelgeschäft, dieses Mal für den Atlantic and Pacific Chain Store. Wie beim ersten Raub verlangte Celia zunächst eine Packung Eier, zückte dann ihren Revolver und zwang den verdutzten Ladenbesitzer die Hände hochzunehmen während Ed die Kasse leer räumte. Doch fiel die Beute dieses Mal weit geringer aus als erwartet, sodass die beiden spontan beschlossen, noch einen anderen Laden ein paar Straßen weiter zu überfallen.
Am nächsten Morgen waren die Zeitungen wieder voll von Sensationsmeldungen: Bobbed Haired Girl Bandit Terrorizes Brooklyn. oder Pretty Girl Robber Raids Stores lauteten die Schlagzeilen. Die Polizei, die seit Jahren unfähig war, die Prohibition durchzusetzen und nun nicht verhindern konnte, dass ein Flappergirl ungestraft mehrere Läden hintereinander ausraubte, bekam die volle Häme der Presse zu spüren. Die Polizei reagierte jedoch schnell und postierte in den kommenden Wochen Streifenbeamte an jeder Straßenecke Brooklyns. Bereits zwei Tage später schien es eine heiße Spur zu geben. Ein junger Mann, der sich verdächtig lange in der Nähe der überfallenen Läden aufgehalten hatte, wurde festgenommen und gab beim Verhör an, die Identität des Bobbed-Haired Bandit zu kennen. Auf seinen Tipp hin wurde kurze Zeit später Helen Quigley verhaftet, eine 23-jährige Tänzerin aus Brooklyn. Trotz der Beteuerung ihrer Unschuld, wurde Quigley bei einer Gegenüberstellung mit den Opfern der Überfälle von einigen als die Banditin mit der Bobfrisur identifiziert und daraufhin in Gewahrsam genommen.
In den Tagen darauf kam es wieder zu einem Überfall. Dieses Mal wurde eine Nachricht hinterlassen, die sich als Kampfansage an die Polizei liest:
You dinty fish-peddling bums, leave this innocent girl alone and get the right ones, which is nobody else than us. Also ask Bohaks Manager did I ruin his cash register. also I will visit him again as I broke a perfectly good automatic on it. We defy you fellows to catch us.
- The Bobbed-Haired Bandit and Companion***
Doch Helen Quigley blieb zunächst in Haft, die Theorie der Polizei lautete, dass es zwei Banditinnen geben musste, oder sogar eine ganze Bande. Gestützt wurde diese Theorie durch mehrere Überfälle und Straftaten, die parallel in New York stattfanden und die ebenfalls von Frauen mit kurzen Haaren begangen wurden. Dass es sich um Nachahmungstäterinnen handelte, spielte vor allem für die Presse keine Rolle, mit jedem neuen Überfall wuchs der Mythos des Bobbed-Haired Bandit nur noch weiter an.
Die immer größer werdende mediale Aufmerksamkeit, das verstärkte Polizeiaufgebot und auch Celias voranschreitende Schwangerschaft machten dem Paar mit der Zeit mehr und mehr zu schaffen. Der anfängliche Höhenflug war vorüber und spätestens seit es hieß The Bobbed Haired Bandit - Dead or alive oder shoot on sight war es für die Cooneys endgültig ernst geworden. Sie wollten nur noch raus aus New York und an einem sicheren Ort ein neues Leben beginnen. Doch konnte dieser Traum nur wahr werden mit einem letzten großen Coup.
Das Ziel dieses letzten großen Überfalls sollte das Lohnbüro des Warenhauses der National Biscuit Company werden. Ed war in der Nähe aufgewachsen und hatte oft beobachtet, wie viel Bargeld dort täglich ein und ausging. Sie mieteten sich in einem Hotel unter falschem Namen ein, kundschafteten das Büro und die Umgebung vorher aus und besorgten sich Schiffspassagen nach Jacksonville (Florida), eine Stadt, die Ed durch seine Militärdienstzeit kannte. Doch trotz guter Vorbereitung verlief der Überfall chaotisch und nicht wie geplant. In gewohnter Weise interagierte Celia zunächst mit dem Kassierer um ihm dann im nächsten Moment die Waffe vorzuhalten. Als die Cooneys sich daran machen wollten die Kassen und den Safe auszuräumen, versuchte der Kassierer den Helden zu spielen und stieß Celia beiseite. Ed feuerte daraufhin ein paar Schüsse ab und beide verließen in Panik das Gebäude ohne jegliche Beute.
Das Paar schaffte es unbehelligt nach Jacksonville zu kommen und mietete sich mit dem wenigen Geld, das sie noch hatten, in ein schäbiges Hotel ein. Doch war die Polizei ihnen inzwischen so dicht auf den Fersen wie nie zuvor. Ed war von ein paar Mitarbeitern der National Biscuit Company erkannt worden und bald schon prangten die Namen und die Fotos der beiden in allen Zeitungen. Die Lage wurde immer dramatischer, da Celia kurz vor der Entbindung stand und Ed aufgrund der Fahndung keine Arbeit annehmen konnte. Als das Kind schließlich da war, überlebte es nur wenige Tage. Ihr letztes Geld gaben die Cooneys für das Begräbnis aus und konnten danach nur noch auf ihre Festnahme warten. Diese kam auch wenig später und brachte beide unter großer öffentlichen Anteilnahme mit dem Zug zurück nach New York. Das Interesse am Bobbed-Haired Bandit war gewaltig, an allen Bahnhöfen auf der Strecke warteten Menschenmassen, um einen Blick auf die Banditin zu erhaschen.
Der Prozess der Cooneys wurde mit nicht weniger großem öffentlich Interesse verfolgt. Die Presse fragte sich ob Celia drogenabhängig oder von ihrem Mann zu den Überfällen gezwungen worden war. Auch eine verminderte Zurechnungsfähigkeit aufgrund ihrer Schwangerschaft wurde als mögliche Ursache in Betracht gezogen. Je nach Zeitung wurde Celia in den Wochen nach der Verhaftung mit Bewunderung oder Mitleid bedacht oder als kaltherziges, vergnügungssüchtiges Flappergirl dargestellt. Die beiden werden schließlich zu 10 Jahren Haft verurteilt, doch die Faszination um ihre Rolle als Banditin hörte selbst nach dem Urteil nicht auf. Niemand anderer als Zeitungsmagnat William Randolph Hearst zahlte ihr 1000 Dollar für die Publikation ihrer Memoiren, die bald überall in den USA zu lesen waren.
Das Paar wurde nach sieben Jahren wieder freigelassen, doch Ed starb bereits 1938 an Tuberkulose. Celia heiratete ein zweites Mal, arbeitete als Sekretärin und lebte unauffällig bis zu ihrem Tod 1992. Erst später stießen ihre Söhne zufällig auf Dokumente, die die unglaubliche Geschichte ihrer Mutter enthüllten.
Meine verehrten Damen und Herren,
ich hoffe, ich konnte Sie mit der spannenden Geschichte um The Bobbed-Haired ein wenig aus der November-Tristesse herausholen. Wenn Sie noch mehr darüber erfahren möchten, empfehle ich das Buch The Bobbed-Haired Bandit – A True Story of Crime and Celebrity in 1920s New York von Stephen Duncombe und Andrew Mattson.
Wie immer die Ihre,
Marleen Tigersee
*inflationsbereinigt wären das heute ca. 10.000 Dollar
** manchmal auch Bob-Hair-Bandit oder Bobbed-Hair Bandit
*** Ü: Ihr fischfressenden Penner, lasst dieses unschuldige Mädchen in Ruhe und holt euch die Richtigen, und das sind niemand anderes als wir. Fragt auch Bohaks Manager, ob ich seine Registrierkasse kaputt gemacht habe. Außerdem werde ich ihn wieder besuchen, da ich eine gut funktionierende Automatikwaffe an ihr kaputt gemacht habe. Wir fordern euch heraus, uns zu fangen.
- The Bobbed-Haired Bandit und ihr Begleiter
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